Von der Rückseite des Mondes

Buchtitel Von der Rückseite des Mondes Sirren

Hinter der Haustür steht die Schwüle. In der Luft liegt ein hohes Sirren. Ein elektrisches Sirren wie Bauarbeiten. Eine Flex mit Wasserkühlung vielleicht. Ein Gerät in der Hand eines Wanderarbeiters. Unermüdlich tätig, sieben Tage, lange Tage. Zusehen, wie Blocks ausgeweidet werden. Zusehen, wie der Berg mit Türen und Zargen, mit Kloschüsseln und Waschbecken wächst. Wie die Berge verschwinden und neue Berge angehäuft werden. Paletten mit Material. Sehen, wo bald neue Studenten einziehen können. Ich gehe über den Campus.

Ich gehe unter den Bäumen. Und Arbeiter sehe ich nicht. Ich gehe und treffe Konfuzius. Er wartet am Haupttor. Sagt, fordere viel von dir. Sagt, erwarte wenig von anderen. Sagt, erspare dir so viel Ärger. Ich nicke, ich gehe und sitze am Seerosenteich.

Das elektrische Sirren in der Luft, laut, als wäre es ein Flexkonzert. Ich blicke über den Teich und begreife, Bauarbeiter sind hier heute nicht. Schallplatten. Singmuskeln. Trommelorgane. Es sind die unsterblich Geglaubten, die schon zur HanZeit als Zungenzikaden den Toten mitgegeben wurden, in der Hoffnung auf baldige Wiedergeburt. Es sind die Singzikaden¹. Die Männchen machen viel Lärm.

¹Singzikaden erzeugen mit Schallplatten und Singmuskeln ihre »Musik«, sie haben ein Trommelorgan ausgebildet. Zikaden galten schon Platon (429-347 v. Chr.) als »Botschafter der Musen« und »entkörperlichte Seelen«. Etwas später datieren die aus Jade geschnitzten Zungenzikaden (Han-Zeit, 206 vor bis 220 nach Chr.), die man in China fand und dem Glauben an die Wiedergeburt Ausdruck verleihen.

Nordtor

Dahin gehen, wo am Abend die roten chinesischen Zeichen in der Luft hängen. Am Nordtor unter den Augen der Uniformierten das Gelände verlassen, die Straße überqueren, erfahren, dass die Autos immer Vorfahrt haben und diese Ampel kein Fußgängergrün zeigen wird. Vor der Glastür eines Ladens stehen, der wie geschlossen aussieht und bereits im Zurücktreten doch noch eine Bewegung drinnen wahrnehmen, als winke mir einer zu. Gegen die Tür drücken und eintreten.

Da sitzt eine Frau an der Kasse und hält ihren Säugling auf dem Arm, den sie stillt. Und während ich mich im Laden umsehe und wähle und mich so gut es mit Gebärden geht, verständlich mache, trocknet sie dem Säugling den Kopf mit einem Papiertuch. Und während ich denke, jetzt wird sie das Kind von der Brust nehmen, gelingt es ihr auch mit dem Kind die Waren zu reichen, die Kasse zu bedienen, das Wechselgeld herauszugeben. Ich denke an Puyi, den letzten chinesischen Kaiser, wie er von seiner Amme als großer Junge gestillt wird. Ich denke an die Art Gallery unten am Meer mit den martialischen Darstellungen chinesischer Kämpfer, an den Soldaten, der schon tot, gestillt wird von einer Frau, einer Mutter. Pieta ohne Tränen.

Headhunters

Im Bus steht eine Frau für mich auf. Eine andere nickt. Ich soll mich setzen. So alt schon? Als die Einkaufstrolleys sich mehren, weiß ich, dass ich richtig bin. Die Frauen drängen zur Tür. Ich folge ihnen, steige aus. Schon nach wenigen Metern auf dem Bürgersteig bunte Hähne in Käfigen und einer obendrauf zum genaueren Betrachten. Er hat eine Klammer auf dem Schnabel, ist angebunden. Sonst könnte er zuhacken. Sein Vorgänger hat schon den Kopf verloren, lässt gerade Federn.

Goldfische Goldfische bringen Glück, Kanarienvögel Leichtigkeit, Insekten Proteine und mehr als hundert Blüten Genuss. Hier kannst du alles erwerben: Drachenfrüchte, Kochtöpfe, Skorpione und Bilder von Mao Zedong.

An der Bushaltestelle fragt ein junger Mann mit kleinem Kind auf dem Arm, ob du Englisch sprichst. Was deine Muttersprache ist? Und als du »German« sagst, fragt er weiter, ob du schon einen Job hast. Headhunter looking for native speakers.


Monika Littau
Seiten 13-15 aus: Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen.
BACOBA Verlag, September 2019
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