Sie nannten mich Rheingräfin*

(*Sibylle Mertens-Schaaffhausen, 1797-1857)

Die mit Gewalt in mein Leben treten, kann ich nicht lieben.
Auch nicht die Kinder. Sie kamen, eines nach dem anderen, sechs an der Zahl. Immer entdeckte ich Ähnlichkeiten. Die Nase, ein Leberfleck an der gleichen Stelle, die Haarfarbe. Die Form der großen Zehen, eines Fingers oder einer Augenbraue. Immer entdeckte ich Ähnlichkeiten mit dem Vater Louis, diesem verhassten groben Klotz. Eine Höllenehe, sagte Annette*, die mich monatelang pflegte, als ich krank war und nicht mehr konnte. Louis mochte die Frauen in meinem Umfeld nicht. Er hatte sogar die Stirn, meiner Freundin Adele* Hausverbot zu erteilen. Aber was wäre aus mir ohne die Freundinnen geworden? Wenn ich an Adele denke, möchte ich gleich wieder in Tränen ausbrechen.
(*Anette Droste-Hülshoff, *Adele Schopenhauer)

Ich war also die Frau an der Seite von Bankier Louis Mertens, Frau Sibylle Mertens-Schaaffhausen. Ich war „seine“ Frau, weil die Konvention es so wollte. Einer muss es ja doch sein, hatte Vater gesagt. Als Frau kannst du nicht allein durchs Leben gehen. So war ich, die künstlerisch-musisch und wissenschaftlich begabte, finanziell gut gestellte Frau, an die Seite von Louis gekommen. Wir hassten uns von Anfang an. Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, verschwand ich und ging ohne ihn meine Wege. Nicht allein, immer in guter Gesellschaft! Doch die ersten elf Jahre zwang er mich wieder und wieder ins Wochenbett. Wie froh ich war, wenn die Entbindungszeit kam, wenn ich entbunden wurde, frei, getrennt von diesen im Unglück Gezeugten. Später entband ich mich selbst von der ganzen Familie. Diese Familie - ein einziges, großes Malheur!

Entbinden ist ein so schönes Wort! Ich sehe, wie Fesseln gelöst werden, fallen.
Entbinden hat fast etwas Demokratisches!

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Bonner Bogen

Monika Littau liest:
Sie nannten mich Rheingräfin

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aus: Bonner Bogen - Literarisches von A (wie Beethoven) bis Z (wie Westerwelle),
herausgegeben von Harald Gesterkamp und Monika Littau